Das menschliche Gesicht der Großstadtdämonen

Wie Kulturkritik durch die sprachliche Bildlichkeit des Expressionismus zum Ausdruck gebracht wird

Romy Durda

Philipps-Universität Marburg

Keywords: expressionism, poetry, ecology, urbanism, Georg Heym, Alfred Lichtenstein, Mechtilde Lichnowsky


Abstract

Dieses Paper zeigt exemplarisch auf, dass expressionistische Lyrik als eine zeitgenössische ökologische Reflexion und Klage über Bedingungen des menschlichen Daseins gelesen werden kann. Gegenstand dieser Reflexion ist nicht nur die Verfasstheit des individuellen Ich, sondern auch seine Beziehung zur großstädtischen Umwelt: Das lyrische Ich erkennt seine prekäre Situation inmitten der Häuserschluchten, die nicht mehr Behausung, sondern nur noch Bedrohung sind. In close readings verschiedener expressionistischer Gedichte stellt sich allerdings heraus, dass dieses Leiden unter den Bedingungen des modernen Großstadtlebens nicht allein – wie in der Expressionismusrezeption oft vorgetragen – auf die dämonisch-mystisch metaphorisierte Großstadt zurückzuführen ist. Vielmehr ergeben sich aus einer textimmanenten Auseinandersetzung mit ihren sprachlichen Bildern deutliche Hinweise auf eine tiefgehende Kulturkritik, die in der Expressionismusrezeption bislang vernachlässigt wurde.

 

So wurden beispielsweise dämonisierende und dynamisierende Metaphern in der Auseinandersetzung mit Werken von Georg Heym und Alfred Lichtenstein vielfach als eine unheilvolle, mystische Animierung der Umgebung mittels übernatürlicher Wesen interpretiert. Wie meine Analyse verschiedener expressionistischer Stadtgedichte zeigen wird, verbirgt sich hinter dieser dämonischen Gestalt jedoch ein viel bekannteres, ein allzu menschliches Gesicht.

 

Eine eingehende Untersuchung dieser Metaphern macht deutlich, dass den personifizierten Großstädten Merkmale zugeschrieben werden, die klare Gemeinsamkeiten zu menschlichen Eigenschaften aufweisen. Folglich werden die mit der Urbanisierung im Zusammenhang stehenden existentiellen Leiderfahrungen als Konsequenzen des menschlichen Schaffens dargestellt und reflektiert. Indem die sprachliche Gestaltung der analysierten Werke auf den wahren Urheber großstädtischer Leiderfahrungen aufmerksam macht, zeigt sie den Menschen als Schöpfer dieser zweiten Natur, die uns nicht länger lebensdienlich ist.

 

In ihren eindrücklichen Metaphern malen österreichische und deutsche DichterInnen ein düsteres Bild des großstädtischen Lebensraumes, das auch hundert Jahre später noch von großer Relevanz für uns hier und heute ist: angesichts zunehmender Verstädterung und Metropolenbildung ist die Zeit längst reif für die Auseinandersetzung mit der ökologischen und kulturkritischen Perspektive expressionistischer Großstadtlyrik.

 

 

This article examines how expressionist poetry gave rise to an ecological reflection on the condition of the self and how it relates to its urban and social environment. Based on an analysis of the ambivalent relationship between the self and the emerging big cities, which was of particular significance to German and Austrian poets, I argue that ecological implications in expressionist imagery have mostly been overlooked. For example, numerous critics have identified and reaffirmed the significance of “demonizing” and “dynamizing” metaphors in Georg Heym’s and Alfred Lichtenstein’s poetry. The dominant reading is to interpret their poetic depictions of the metropolis as supernatural entities imbued with a sinister sense of agency, recklessness, and hostility. Through the close readings of various expressionist city poems, I show that there is another, more familiar face behind the demonic mask: a very human one. The big city’s features as well as its characteristics do not only point to demonic entities, but they also draw attention to unmistakably human characteristics. Accordingly, expressionist poems illustrate that the existential dread and misery experienced by the self in the metropolis converge into a suffering of our own human making. In my close readings of poems by Heym, Lichtenstein, Lichnowsky, and others, the most “demonic” aspect of the metropolis is the acknowledgement that we as humans have created a second nature that no longer sustains us. This article therefore presents expressionist city poetry as intriguing and insightful meditations on how human ecology responded to the challenges of urbanization and acceleration. In their haunting and emphatic metaphors, Austrian and German expressionist poets paint a dark picture of our human dwelling, which is still relevant for us today: As our cities today are ever-expanding and growing into megacities and supercities, it is the perfect time to rediscover—and reconsider—the ecological implications of expressionist city poetry.